Der Truthahn

In einem fernen Land lebte ein Prinz, der den Verstand verlor und sich für einen Truthahn hielt. Er hockte unter dem Tisch, völlig nackt, und wies die königlichen Speisen zurück, die man den Gästen in den goldenen Schüsseln des Palastes auftrug. Er nährte sich nur von den Körnern, wie die Truthähne sie fressen. Der König ließ in seiner Verzweiflung die besten ärzte, weithin berühmte Spezialisten, kommen; niemand konnte helfen; desgleichen die Magier, die Mönche, die Wunderheiler und Wundertäter; alle Bemühungen blieben vergeblich.

Eines Tages kam ein weiser alter Mann an den Hof. „Ich glaube, ich kann den Prinzen heilen“, sagte er schüchtern. „Erlaubt Ihr, dass ich es versuche?“ Der König gab seine Zustimmung, und der Weise legte zur allgemeinen überraschung seine Kleider ab, kroch unter den Tisch zu dem Prinzen und begann zu glucken wie ein Truthahn. Misstrauisch fragte ihn der Prinz: „Wer bist du? Was machst du?“ – „Und du?“ gab der Weise zurück. „Wer bist du, und was treibst du hier?“ – „Siehst du’s denn nicht? Ich bin ein Truthahn!“ – „Nein, so etwas!“ sagte der Weise, „wie seltsam, dich hier zu treffen!“ – „Wieso seltsam?“ – „Ja, siehst du es denn nicht? Wahrhaftig nicht? Dass auch ich ein Truthahn bin – ein Truthahn wie du?“

Nach einer Woche zog der Weise ein Hemd an. Der Prinz traute seinen Augen nicht. „Bist du verrückt? Vergisst du, wer du bist? Willst du etwa ein Mensch sein? – „Weißt du“, antwortete der Weise in besänftigendem Ton, „glaub nicht, dass ein Truthahn, der sich wie ein Mensch kleidet, aufhört, ein Truthahn zu sein.“ Der Prinz beruhigte sich. Wieder eine Woche später kleideten sich beide ganz normal.

Nun ließ sich der Weise einige Speisen aus der königlichen Küche bringen. „Was machst du da!“ protestierte der Prinz ganz entsetzt. „Wirst du jetzt essen wie sie?“ Sein Freund beruhigte ihn: „Glaub doch nicht, dass ein Truthahn aufhört ein Truthahn zu sein, bloß weil er wie die Menschen isst! Das wäre ja lächerlich, wenn es für einen Truthahn genügt, sich wie ein Mensch zu benehmen, um ein Mensch zu werden! Du kannst überhaupt alles zusammen mit den Menschen machen, in ihrer Menschenwelt – und trotzdem der Truthahn bleiben, der du bist.“ Und der Prinz ließ sich überzeugen und lebte wieder wie ein Prinz.

(Quelle: unbekannt – eine Geschichte des Rabbi Nachman von Brazlaw)

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